Schön scheitern! Lass uns Schluss machen – mit Perfektionismus
Gut beschirmt in der Fußgängerzone von Lund habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie und wo ich mich abschirme. Wann ist mein Wunsch auf „Nummer sicher zu gehen“ förderlich und wo hindere ich mich selbst? Abschirmen geht auf unterschiedlichste Weise. Mein alter Freund der Perfektionismus ist eine davon. Hört sich seltsam an? Alles perfekt machen zu wollen ist bzw. war für mich lange Zeit der Versuch, aufgrund von Vollkommenheit unangreifbar zu sein. Wenn ich alles richtig mache, wenn ich überperforme, dann bekomme ich die Anerkennung, die ich suche. So dachte ich zumindest viele Jahre und mein innerliches Hetzen und Streben hat mich mit Ende Zwanzig in einen Burn out geführt. Heute sage ich danke dafür und weiß, dass diese Erfahrung für mein persönliches Wachstum und meine Ent-Wicklung sehr wichtig war.
Perfektionismus als Haltung macht krank und wenig attraktiv. Zu viel Wollen, zu wenig Selbst-Wertschätzung und Liebe – für mich selbst und andere. Denn wenn ich meine perfekt sein zu müssen, messe ich mich entsprechend kritisch. Leider wird dieses unsinnige Maß auch auf andere übertragen und entsprechend quittiert. Ich habe es lange genug ausprobiert und weiß heute, dass diese Strategie zum Scheitern verurteilt ist. Sie stresst, nährt mich nicht und schneidet mich von einem lebendigen Lebensfluss ab.
Wenn schon Scheitern, dann bitte mit der Illusion, Perfektionismus sei ein Schlüssel für Erfolg und Glück. Leider pflegen wir in Deutschland keine Kultur des Scheiterns oder anders gesagt: Es gibt hier kein gepflegtes Scheitern, sondern vor allem die Angst vor dem Versagen. Schade, denn es würde uns so viel Druck nehmen und den Blick frei machen für das, was das Nichtgelingen wahrhaft ist: Ein Versuch mit ungewünschtem oder unerwartetem Ausgang. Mehr nicht. Ich spreche ja vom „Entlernen“ und für mich ist das eine sehr kostbare und wertvolle Erkenntnis, die ich übe: Umarme das Nicht-Gelingen. Mit dieser Haltung verliert es seinen Schrecken, seine Macht und wird zu dem was es wahrhaft ist: Eine weitere Farbe in meinem Lebens-Farbkasten.
Failing is not a problem you will face. Failing is how you get there. Steve Chandler
Ich finde es ist an der Zeit für eine neue Haltung und einen fröhlicherer Umgang mit dem Scheitern. Ich selbst experimentiere auch damit und hatte das Gefühl, dass es mir 2016 besonders gut gelungen ist – das Scheitern oder Missglücken… So sah es ein Teil in mir. Zumindest solange, wie ich eine klare Vorstellungen davon hatte, wie mein Jahr zu laufen hat, was das Ergebnis sein sollte und vor allem, was ich davon erwarte. Und davon hatte (und habe) ich jede Menge. Immer noch… End-Spannend wurde es erst, als ich mit Abstand und neuer Perspektive auf die gleichen Umstände geschaut habe. Heute sehe ich meine Erfahrungen 2016 mit anderen Augen und auch wenn mir nicht alle gefallen, so bin dankbar dafür.
Ich muss aber nicht lange suchen, um ein aktuelles Beispiel zu finden. Bis gestern bin ich noch sehr ungnädig mit mir ins Gericht gegangen, weil ich auf dieser Plattform so lange keine Beiträge mehr geschrieben, Videos gepostet oder neue Tipps per Newsletter mitgeteilt habe. Ein Grund: Ich hatte letztes Jahr das Gefühl, es ist alles gesagt. Außerdem hatte ich keine Lust mehr, im Getöse des üblichen Business meine leisen Töne anzubieten. Übersetzt: Ich habe nichts Großartiges zu sagen, dann sage ich eben gar nichts. Hm, sollte da etwa ein bestimmter Anspruch wieder einmal heimlich das Steuer übernommen haben? Eine hübsche Verhinderungsstrategie, die ich hiermit beende.
Ich komme meinem heimlichen Widerstand immer mehr auf die Spur. Immer dann, wenn ich mich gegen den Lebensfluss stelle und meine, ich wüsste besser, was jetzt gerade wie sein sollte, erschwere ich selbst mein freundliches Da-Sein. Ein Teil in mir stemmt sich gegen das, was gerade ist und will… Ja genau, das Wollen und mein Wille, der angeblich genau weiß, wie etwas zu sein hat, sind Ursache für mein Gefühl der Unzufriedenheit. Wenn ich mir immer wieder klar mache, dass mein Wollen auf der Vergangenheit (Erfahrung) basiert und damit meine Sicht der Dinge sehr limitiert, kann ich einen Schritt zur Seite treten und wirklich im Moment sein und mit diesem Augenblick tanzen. Dazu brauche ich: Bewusst-Sein und Achtsamkeit, Hingabe und Akzeptanz, aber vor allem Übung und Vertrauen. Mein Coach hat mir mit dem Satz „Vertraue darauf, dass dich auch dein Nicht-Tun dahin führt, wo du gerade sein sollst.“ einen wirklichen Schlüssel gereicht. Mich erleichtert und befreit diese Sicht ungemein.
Mein aktueller Rettungsring:
So lange ein Teil (Ego) in mir denkt, er sei nicht (gut) genug, schwäche ich mich selbst. Deshalb erinnere ich mich mit Hilfe von kleinen Remindern (post its) selbst daran, dass ich genug bin. Oder noch besser gesagt: Ich reiche aus. Immer. Ich habe schon immer ausgereicht und ich werde immer ausreichen. Wie sollte es auch anders sein? Alles andere ist eine Illusion. Eine positive und sinnvolle (Re-)Programmierung.
Der zweite Teil meines „Ego-Hackings“ lautet: „Das darf (auch) sein.“ Mit dieser Haltung kann ich alles erst einmal annehmen und ihm seinen rechtmäßigen Platz an meinem inneren Konferenztisch geben. Ich denke es oder fühle es, also hat es seine Berechtigung. Erst meine Ablehnung und Abwertung lassen das schlechte Gefühl entstehen. Nutze ich mein Mitspracherecht für mich selbst, stoppe ich die Endlosschleife der inneren Kritik. Also: Schluss mit dem Perfektionismus und mutiges Springen in das Meer der Möglichkeiten. Den (Fall)Schirm packen wir nur da aus, wo wir ihn wirklich brauchen.